Deutsch für Fortgeschrittene, Weggelaufene und Dagebliebene (6)

“Seniorin stürzt und verletzt sich schwer”, lese ich in der Zeitung. Die arme alte Dame steht vielleicht zum ersten Mal in der Zeitung und ist plötzlich nicht mehr eine alte Dame, sondern eine Seniorin.

senior ist ein Komparativ – das lateinische Wort für älter. Im Deutschen kann der Komparativ auf eine seiner steigernden Grundbedeutung entgegengesetzte Weise angewandt werden – ein älterer Mensch ist nicht ganz so alt wie ein alter, ein jüngerer nicht ganz so jung wie ein junger. Bessere Leute sind noch nicht unbedingt gute Leute; der höhere Dienst muß noch kein hoher Dienst sein.

Mit dem etwas jugendlicher klingenden Komparativ zu alt wird gerne so getan, als sage man etwas Freundliches. Dabei bedeutet es nur, daß alt als abwertendes Wort verstanden wird und also gemildert werden muß. Das Fremdwort senior steigert nicht nur die Grundform senex, sondern stellt eine noch deutlichere Vermeidung des a-Wortes dar. Alt darf nicht mehr wie alt klingen, denn alt ist schlecht in einer vom Jugendwahn geprägten Welt.

In mir sträubt sich alles, einen weit über 80jährigen Menschen als “älteren Menschen” zu bezeichnen – ich ziehe bei diesem erheblichen Alter (nicht “Älterer”) das Adjektiv in seiner Grundform vor; meinetwegen sei der Mensch, wenn er etwa ein Altphilologe ist, senex, aber nicht Senior.

Mit der Verniedlichung zum Senior mache ich dem alten Menschen nur scheinbar ein Kompliment. In Wahrheit sage ich damit: Alt ist schlecht, ist hinfällig und kaputt und unbrauchbar, und weil ich Ihnen das nicht so ins Gesicht sagen mag, benutze ich ein hübsches Fremdwort.

Sage ich aber: Alt werden ist grundsätzlich gut, und also ist Alter grundsätzlich gut; im Alter werden die meisten Menschen milder und bilden damit ein Gegengewicht zu der stürmenden Jugend, das Alter verfügt über Erfahrungen, zu denen junge Leute schlicht noch keine Zeit hatten, und die Probleme des Alters machen nicht das Alter an sich schlecht, sondern fordern einen angemessenen Umgang – dann brauche ich das beschönigende Wort senior nicht mehr.

Wem diese Gründe nicht einleuchten, der mag sich vorsagen:

Man ist so senior, wie man sich fühlt.
Wir wollen gemeinsam senior werden.
Seniorität schützt vor Torheit nicht.
Die Seniorbäuerin lebt jetzt auf dem Seniorenteil.

Klingt albern. Sagen wir also einfach alt, wenn wir alt meinen.

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2 Antworten auf Deutsch für Fortgeschrittene, Weggelaufene und Dagebliebene (6)

  1. tmp sagt:

    Was ist nun Eigentlich mit den italienischen Anreden… “Seniora” und “Senorita”..?? :roll:

  2. tmp sagt:

    Schreiben sich – glaub ich – beide mit “i” vorne… Oder..?? :roll:

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