Der Kolibri und der Adler – für einen Kolibri von Twitter :-)

Einst blickte ein buntschillender Kolibri von redlichem Ansinnen auf all die Vögel, die seine Welt ausmachten und die ihn umgaben. Dieser Anblick machte ihn nicht besonders glücklich, saßen doch ganz offensichtlich alle in Käfigen.
Der Kolibri war voll der Überzeugung, daß es dem Wesen eines Vogels widersprach, in einem Käfig sein Dasein zu fristen, mußte ein Vogel doch frei seine Schwingen durch die Lüfte rauschen lassen, um wirklich Vogel zu sein.

Nachdem er dies für sich schon lange begriffen hatte und munter von einer Blume zur nächsten flatterte und leicht beschwingt deren Nektar kostete, beschloss er, auch die anderen Vögel aus den Käfigen zu befreien und dieses Glück allen zugänglich zu machen. Die Sache schien ganz leicht und klar und mit einfachen Mitteln getan zu sein. Er mußte lediglich die Käfigtüren öffnen und den Vögeln erklären, dass sie frei wären.

Im ersten Käfig, zu dem er kam, saß ein Huhn. Der Kolibri öffnete dessen Käfigtür und erklärte ihm, daß es nun den Käfig verlassen könne. Das Huhn gackerte ganz verdutzt und wußte nicht recht, wie ihm geschah. Irgendwie wußte es nicht, ob es aus dem Käfig raus sollte.
“Und bin ich denn da draußen auch vor dem Fuchs sicher ?” fragte es den Kolibri eingeschüchtert.
Der Kolibri antwortete ganz verblüfft: “Nein, das bist du zwar nicht, dafür steht es dir frei, zu tun, was dir gefällt.”
Das Huhn schüttelte den Kopf und meinte, daß ihm das viel zu gefährlich wäre, konnte es doch auch gar nicht vernünftig fliegen. Zwar hätte es schon Lust, wieder einmal in einr richtigen Wiese rumzuhüpfen, aber der nächtliche Schutz vor dem Fuchs war überlebensnotwendig.
Es bat den Kolibri, die Käfigtüre wieder zu schließen. Natürlich wäre es dadurch wieder eingesperrt, dafür aber nach außen hin geschützt.
Der Kolibri war über das Ansinnen des Huhns völlig fassungslos, wollte jedoch nicht so einfach aufgeben. Er erzählte ihm von Freilandhühnern, die den ganzen Tag Würmer aus der Erde ziehen, Körner picken und in echter Erde scharren. Dem Huhn, das in seiner Legebatterie gewohnt war, tagaus tagein brav Eier zu produzieren, gefiel diese Vorstellung zwar, jedoch brauchte es auch seinen Schutz. Nachdem sie eine Weile über diese Angelegenheit gesprochen hatten, versprach der Kolibri dem Huhn, ein kleines Zäunchen um die IWese aufzustellen und es jeden Abend über die Nacht in seinem Stall einzusperren. Das Huhn freute sich darüber sehr, doch der Kolibri wußte, daß er von nun an auch für das Huhn sorgen mußte und dies der Preis war, den er für die Freiheitserweiterung des Huhns zahlen mußte.

Im zweiten Käfig, der dem Kolibri begegnete, saß ein Vogel Strauß. Der Kolibri öffnete die Käfigtür und sagte dem Vogel Strauß, daß er nun davon fliegen könne.
Der Vogel Strauß schüttelte den Kopf und erklärte dem Kolibri, daß er gar nicht fliegen könne, weil dies gar nicht in seiner Natur läge.Jedoch könne er laufen, so schnell wie der Wind und danach sehne er sich schon sehr. Zudem könne er dann, wenn es Schwierigkeiten gäbe, seinen Kopf endlich mal wieder in echten Sand stecken. Der Vogel Strauß dankte dem Kolibri für das Öffnen der Käfigtür und eilte davon.

Der Kolibri seufzte kopfschüttelnd über dieses seltsame Vogelprinzip, das ihm völlig fremd war, und ging zum nächsten Käfig weiter.

Im dritten Käfig war ein Papagei untergebracht. Dieser hatte einen wunderschönen Federschmuck in allen Farben des Regenbogens.

Der Kolibri öffnete die Käfigtür und sprach zum Papagei: ” Komm raus ! Du bist nun frei !”
Der Papagei antwortete: ” Komm raus ! Du bist nun frei !” und rührte sich nicht vom Fleck.

Der Kolibri stutzte und war verwirrt. Er sprach: ” Du sitzt in einem Käfig, siehst du das nicht ? Aber nun, da die Tür geöffnet ist, hast du die Möglichkeit, deinen Käfig zu verlassen !”
Der Papagei antwortete darauf: ” Du sitzt in einem Käfig, siehst du das nicht ? Aber nun, da die Tür geöffnet ist, hast du die Möglichkeit, deinen Käfig zu verlassen !” und saß noch immer ganz ruhig auf seiner Stange.

Der Kolibri kannte sich nun gar nicht mehr aus. Er verstand nicht, warum der Papagei ständig seine Worte wiederholte. Dann blickte er auf die Flügel des Papageis und bemerkte, daß diese gestutzt worden waren. Er ahnte plötzlich, was das Schicksal des Papageis gewesen war und fragte diesen: ” Wurdest du in Unfreiheit geboren ? Wagst du es deswegen nicht, deinen Käfig zu verlassen ?”
Der Papagei wiederholte die Worte des Kolibris getreu und blickte diesen ruhig an.

Da wurde der Kolibri wütend und schrie: “Nein, ich wurde in Freiheit geboren ! Aber wenn Du zu dumm bist, zu erkennen, daß du gefangen in einem Käfig lebst, dann bleib eben, wo du bist !”

Er knallte die Käfigtür des Papageis wieder zu und eilte davon.
Hinter sich hörte er noch, wie der Papagei die soeben gesprochenen Worte wiederholte, die wie ein Echo langsam in der Ferne entschwanden.

Der Kolibri war empört und deprimiert. Eigentlich wollte er doch nichts anderes tun, als Vögeln dabei zu helfen, ihr Urprinzip leben zu können. Aber die vielen Vögel in den Käfigen waren entweder flugunfähig oder dumm oder wußten mit der angebotenen Freiheit nichts anzufangen, weil sie ihnen Angst einjagte.
Und als er so da saß und vor sich hingrübelte erblickte er plötzlich einen großen mächtigen Vogel, der mit riesigen Schwingen durch die Lüfte glitt und sich am Wipfel eines nahen Baumes niederließ. Der Kolibri erschrak zuerst, da dieser Vogel gefährlich wirkte. Aber er hatte noch nie so einen Vogel gesehen und war neugierig. Der große Vogel hatte gerade ein ganzes Kaninchen verzehrt und da er dann wohl satt sein mußte, wagte sich der Kolibri näher an diesen unbekannten Gesellen heran.

Der Kolibri sprach ihn an und fragte ihn, was er denn für ein Vogel sei. Der große Vogel blickte ihn etwas mürrisch an und meinte: ” Wie kommt es, daß dir der König der Lüfte völlig unbekannt ist ? Ich bin ein Adler und nur kurz hier im Tal zu Gast, denn mein Wohnort ist der hohe zerklüftete Berg dort drüben.”

Der Kolibri wurde nun noch neugieriger und bat den Adler von seinem Leben zu erzählen. Der Adler war die Einsamkeit und Ruhe der Berge gewohnt und daher nicht darauf versessen, viele Worte zu verlieren. Er lies sich aber dennoch vom Kolibri dazu überreden, von seinem Leben zu berichten. ” Hoch oben auf dem Felsen wohne ich. Davor liegt ein steiler Abgrund und an dessen Fuß ein tiefer See. Wenn ich dort sitze, fühle ich mich wie auf einem Thron, denn ich kann von dort aus die ganze Landschaft überblicken. Der steile Felsabgrund vor mir leuchtet schneeweiß in der Sonne und ich weiß zwar, daß dies mein eigener Abgrund ist, jedoch kann ich ruhig daran hinunter blicken. Früher ängstigte mich das, weil ich fürchtete, dort hinunter zu fallen und den Aufprall auf den Felsen nicht überleben zu können. Inzwischen hab ich begriffen, daß ich ein Adler bin und auch wenn ich hinunter falle, einfach nur meine Flügel aufspannen muß und fliegen kann, mir nichts passiert. Seither kann ich in den Abgrund blicken, der nun Teil meiner Landschaft ist. Von dort beobachte ich die Vorgänge im Tal, jedoch verliere ich nie den Überblick. Dann schwinge ich mich vom Rande des Abgrunds in die Lüfte und lasse mich vom Wind tragen. Nur selten begebe ich mich ins Tal, um nachzusehen, was dort los ist, um Einblicke zu bekommen. Jedoch langweilt mich das rasch und ich kehre in die Einsamkeit der Berge zurück.”

Die Augen des Kolibris begannen bei der Erzählung zu leuchten.

Der Adler schien ein echter Vogel zu sein und das zu leben, was einem Vogel entsprach. Der Kolibri dachte sich, daß der Adler wohl schon viel gesehen haben müsste und ihm vielleicht einen Ratschlag in seinen Ambitionen geben könnte, anderen Vögeln das echte Vogeldasein zu ermöglichen.

So erzählte er ihm von seinen mehr oder minder mißglückten Versuchen, Vögel zu befreien. Er erzählte ihm vom Huhn und vom Vogel Strauß und über die Dummheit des Papageis, die ihn am meisten verärgert hatte.

Der Adler lächelte und meinte: ” Bist du sicher, daß der Papagei so dumm ist ?”

Der Kolibri begann hektisch mit den Flügeln zu schlagen und wurde wieder leicht ärgerlich.

” Natürlich ist er dumm. Er erkennt nicht seine Unfreiheit und die Möglichkeiten, die die Freiheit ihm bieten kann und außerdem wiederholt er unreflektiert einfach nur das, was man sagt !”

Der Adler sprach: ” Bist du dir wirklich sicher, daß er dumm ist ? Blick dich nur einmal ganz genau um, bevor du weiter sprichst. Und sieh wirklich ganz genau hin.”

Der Kolibri hatte keine Ahnung, worauf der Adler hinaus wollte und blickte sich hektisch um.

Das sah er plötzlich etwas, was ihm zuvor nie aufgefallen war, weil er im Grunde auch noch nie so ganz genau hingesehen hatte.
Weit um ihn spannte sich ein riesiger Käfig, so groß und so weit, dass dessen Gitterstäbe nur blass in der Ferne sichtbar waren.
Der Kolibri begriff sofort, daß dies sein eigener Käfig und seine eigenen Befangenheit waren. Der Adler merkte, worauf der Kolibri ihn hingewiesen hat und meinte:
“Der Papagei war der einzige von den dreien, der sich nicht mit Halbherzigkeiten begnügen wollte und genau erkannte, daß er lediglich Käfig gegen Käfig tauschen würde, der vermeintliche Vogelbefreier letzendlich ein Vogelfänger ist. Du meinst vielleicht, er hätte unreflektiert deine Worte wiederholt, jedoch hat er dir lediglich die gleiche Freiheit angeboten, die du ihm angeboten hast, nämlich von deinem Käfig in seinen zu kommen. Dein Käfig mag ja vielleicht größer und weiter sein und mehr Raum beinhalten, letzendlich bleibt er aber ein Käfig.”

Der Kolibri sank bedrückt in sich zusammen und war ratlos und verwirrt.

Der Adler sprach weiter: ” Wie kommt es überhaupt, daß du nur die Vögel in den Käfigen um dich siehst und mich, den König der Lüfte, überhaupt nicht kanntest? Mit deinen bestimmt aufrichtig gemeinten Ambitionen, wirst du sicherlich viele Hühner glücklich machen können und sie von Legebatterien befreien und zu Freilandhühnern machen.

Nur, sag, kennst du diejenige Freiheit, die du ihnen schenken möchtest eigentlich selber ?”
Der Kolibri wusste keine Antwort auf diese Frage und meinte: ” Gibt es denn noch andere Vögel wie dich, die das wirkliche Vogeldasein leben und frei durch die Lüfte fliegen, ohne sich mit Gitterstäben aufzuhalten ?”
Der Adler nickt und meinte: “Es gibt mehr davon, als du vielleicht denkst.”
“Aber warum kenne ich kaum welche, wenn es sie gibt ? Und wer und wo sind diese Vögel ?” fragte der Kolibri.

“Nur weil du sie bisher noch nicht kennen gelernt hast, bedeutet das nicht, daß es sie nicht gibt. Genauso wenig, wie man Geschichten erzählen kann, die man nie gehört hat. Und denkst du denn wirklich, dass freie Vögel freiwillig in deinen Käfig zu Besuch kommen ? Außer uns Adlern gibt es noch die Krähen, die sich scharenweise im Herbst von Wirbelsäulen durch die Luft tragen lassen. Die Menschen mögen die Krähen nicht besonders gerne, weil diese ihnen ins Auge blicken und das in ihnen Unbehagen erzeugt. Sie spüren ganz deutlich die Klugheit dieser Tiere und ihre Fähigkeit, Dinge zu durchschauen. Dann gibt es da noch die Möwen, die stundenlang über das Wasser gleiten und der Brandung lauschen. Ab und zu holen sie sich einen Fisch aus dem Wasser und erholen sich kurz auf einem Felsen, um wiederum stundenlang über das Wasser , das bis zum Horizont fließt, zu gleiten.
Das waren nur einige Beispiele von den Vögeln, die du vielleicht noch gar nicht kennst.”

Als der Adler über die Möwen und das viele Wasser berichtete, bekam der Kolibri ein freudiges Strahlen in seinem Gesicht. Er mochte das Wasser auch sehr gerne, allerdings kannte er nur den Bach in dessen Steihängen seine Bruthöhle lag.

Er dachte ein Weilchen über die Erzählungen des Adlers nach und meinte dann:
“Eigentlich wollte ich den anderen Vögeln in den Käfigen nur helfen und sie freier machen und irgendwie will ich das noch immer. Aber nun, da ich weiß, daß ich selber in einem Käfig sitze, könnte ich doch zumindest von dir und den Krähen und den Möwen berichten !
Das könnte doch auch etwas bewirken !”
Der Adler blickte den Kolibri aufmerksam an und fragte: ” Denkst du denn wirklich, du könntest aus Hühnern Adler machen ? Und bist du dir überhaupt sicher, ein Kolibri zu sein ?”

Der Kolibri schüttelte traurig den Kopf und dachte an die Möwen, die fast lautlos über das Wasser dem Horizont entgegen glitten.
Da kam ihm ein überraschender Gedanke und so fragte er den Adler:” Aber, wenn es stimmt, was du sagst, was machst du dann eigentlich hier ? Und wie willst du wieder aus meinem Käfig heraus kommen ?”

Der Adler lächelte und meinte: ” Nun sieh mir genau zu und wenn du eines Tages das Bedürfnis verspürst, mach es mir nach. Die Freiheit, die du anderen schenken wolltest kann im Grunde jeder nur sich selber schenken.”

Nach diesen Worten erhob sich der Adler mit mächtigen Flügelschlägen in die Lüfte und brachte dabei das Laub des Baumes zum Rauschen wie ein heftiger Windstoß. Und mit seinen breiten Schwingen flog er einfach durch die Gitterstäbe hindurch, als ob es sie gar nicht gäbe, sie einfach nicht da wären.

Der Kolibri blickte dem Adler lange nach, auch noch, als er schon längst nicht mehr zu sehen war. Und er dachte an die Möwen am Wasser, und ob er wirklich ein Kolibri war, oder vielleicht was ganz anderes und ob er den Papagei in seinem Käfig besuchen sollte und vielleicht irgendwann einmal die Möwen am Meer.

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4 Antworten auf Der Kolibri und der Adler – für einen Kolibri von Twitter :-)

  1. Erika sagt:

    eine schöne Geschichte :razz:

    daran musste ich jetzt denken, das hat uns Jorgos mal erzählt in Pilion:

    Schmetterlingstraum
    Chuang-tzu träumte einmal, er sei ein Schmetterling. In glücklicher Selbstzufriedenheit gaukelte und flatterte er umher und tat einfach das, was ihm gefiel.

    Und er wusste nicht, dass er Chuang-tzu war.

    Plötzlich erwachte er aus seinem Traum und schau – da war er wieder er selbst: echt und unverkennbar Chuang-tzu.

    Aber dann wurde er sehr nachdenklich. Er wusste mit einem Male nicht mehr, ob er nun Chuang-tzu war, der eben träumte ein Schmetterling zu sein oder ob er vielleicht ein Schmetterling war, der träumte, Chuang-tzu zu sein.

    (aus “Tao”, Droemer Knaur, 1997,
    leicht überarbeitet)

    • Sylvia sagt:

      Das ist eine sehr schöne Geschichte. :grin:

      Erinnert mich ein wenig an CG Jung, der mal träumte, dass er einen indischen Yogi auf der Straße sitzen sah und als er sich ihm näherte, bemerkte er dass der Yogi ihn meditiert, also ihn durch seine Gedanken erzeugt.

      Interessanter Gedanke.

  2. indivisuell sagt:

    Sehr sehr schöne Geschichte. Und passt gut zum Gezwitscher :mrgreen:

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