Deutsch für Fortgeschrittene, Weggelaufene und Dagebliebene (8)

Das wertneutrale Wort Ideologie wird fast nur noch als Synonym für Fanatismus benutzt. ἰδεολογία, Ideenlehre, Weltanschauung, ist aber ein wertfreier Begriff. Geprägt wurde er in aufklärerischer Absicht als Gegenwort zu Obskurantismus, und man kann allenfalls sagen, daß der Begriff sehr häufig ebenso polemisch benutzt wird wie sein Gegenteil.

Jeder denkende Mensch hat eine Sichtweise, eine Art, die Welt anzuschauen. Das ist, wenn man nicht immer gleichgültig und unbeteiligt oder wankelmütig sein will, notwendig. Sobald eine größere Gruppe sich auf gemeinsame Grundsätze einigt, die mit einer gemeinsamen Weltsicht zu tun haben, kann man von einer Ideologie sprechen. Bei der Vielzahl von Arten, die Welt zu betrachten und zu erklären, ist klar, daß der Ausdruck Ideologie wertfrei ist; es gibt friedliche und kriegerische, menschenfreundliche und menschenverachtende Ideologien.

Wann immer nun eine Diskussion über etwas Wichtigeres als Katzen oder die nächste Sonntagsmahlzeit im Schwange ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann von beiden Seiten gesagt “Ihr bringt nur ideologische Gründe” oder Ähnliches.

Ich bekenne: Ja, ich habe zuweilen ideologische Gründe. Meine Sicht auf die Welt, meine Weltanschauung, meine Ideologie beinhaltet, daß man Menschen niemals umbringen darf, daß Demokratie eine feine Sache ist und Christentum desgleichen und in noch höherem Maße, daß Leben so knüppelhart wie goldig schön ist und noch einiges mehr. Sollte man mir (wie in letzter Zeit mehrmals geschehen) vorwerfen, aus ideologischen Gründen dies oder jenes zu tun oder zu sagen, kann ich also ganz gelassen antworten:

Ja, das stimmt. Weil ich auf die Welt schaue, mich umsehe, darüber nachdenke und Konsequenzen daraus ziehe. Das nennt man Ideologie.

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7 Antworten auf Deutsch für Fortgeschrittene, Weggelaufene und Dagebliebene (8)

  1. tmp sagt:

    Es gibt also Eigentlich genauso viele Ideologien wie es Menschen gibt… :cool:

    • Jein. Man kann schon sagen, daß Interessengemeinschaften (also politische und religiöse Gruppen, aber auch Chöre, Gemeinschaftsateliers oder Schrebergartenvereine) eine gemeinsame Ideologie haben. Aber dennoch revidiert und interpretiert jedes Mitglied einer Gruppe – sofern sie nicht diktatorisch ist – diese Ideologie für sich selbst. Die Auffassung des einzelnen Mitglieds einer Gruppe muß sich nicht in allen Punkten mit der Auffassung anderer Mitglieder decken – im Gegenteil kann es das Gedankengebäude einer Ideologie aufs Schönste ausbauen, wenn es verschiedene Interpretationen innerhalb eines weit gesteckten Rahmens gibt.

  2. Suse sagt:

    Meine “Ideologie” ist eine positive Lebenseinstellung. Oft, sehr oft sagt man mir, ich blicke durch eine rosarote Brille, wenn ich meinen Gesprächspartnern vermitteln will, dass es immer noch schlimmere Dinge gibt als die, die ihnen widerfahren sind.
    Ja, es ist auch meine Ideologie, meinen Kindern noch Werte wie Dankbarkeit, Respekt und Freundlichkeit mit auf ihren Lebensweg zu geben.

  3. tmp sagt:

    Ich hab eine ganz einfache Ideologie..:

    “Kuscheln am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen.” :razz:

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